Jan Rolfsmeier
AMRUMER NEBELKERZEN
Ein Küsten-Krimi: Hark Petersens sechster Fall
Ein dämonisches Lächeln umspielte seine Lippen. Für Heiko Thiemann hatte das hier echten Symbolcharakter. Mit beiden Füßen stand er fest auf einem Grab, das ihn hoch über seine Umgebung erhob. Sein Blick konnte frei über all das gleiten, was er erschaffen hatte: Von West nach Ost zog sich eine endlos erscheinende sattgrüne Rasenfläche in sanften Wellen über das, was einstmals Äcker, Weiden und karge Dünenlandschaften gewesen waren. Leuchtend weiß stachen die Bunker malerisch daraus hervor.
Ganz im Westen glitzerte sein Hotel wie ein Diamant in der Sonne. Im Osten funkelte das Meer in gleicher Weise. Genau dieses funkelnde Glitzern hatte der Architekt in dem Hotelbau einfangen sollen. Es war ihm gelungen. Man würde es drüben auf Föhr, jenseits der spiegelnden Wasserfläche, bei jedem Wetter sehen können. Heller und schöner als das Licht des Leuchtturms, der bisher das einzige Wahrzeichen der Insel gewesen war.
Das Glitzern würde die hochnäsigen Erzfeinde aus Wyk zu jeder Zeit daran erinnern, dass es da war: Das Golfresort Amrum. Sein Golfresort Amrum, nicht ihres. Heimlich war er es angegangen, dieses Projekt, hatte Strohfirmen gegründet und aus ihnen heraus Strohmänner vorgeschickt. Stück für Stück hatten sie das Land aufgekauft. Er selbst war dabei in der Deckung geblieben, hatte sich in das Vertrauen der Amrumer eingeschlichen, hatte still und leise alle Schwierigkeiten und Widerstände aus dem Weg geräumt oder aus dem Weg räumen lassen. Tabus hatte es für ihn dabei, wie immer, nicht gegeben.
Das Projekt hatte viel Geld verschlungen, nicht nur das seine. Und noch mehr Zeit. Doch gerade das hatte für ihn den Reiz ausgemacht. Er fand es ziemlich langweilig, einfach loszugehen und etwas zu kaufen! Das konnte schließlich jeder, der genug Geld hatte. Aber hier, hier hatte es all seiner Fantasie und Fähigkeiten bedurft, die Widerstände zu brechen, die Gegner auf seine Seite zu ziehen oder sie kaltzustellen, wenn sie unzugänglich blieben. Oder auch kaltzumachen, wenn es sein musste. Das war spannend gewesen und am Ende von diesem maßlosen Erfolg gekrönt.
Das Amrumer Golfresort war zu einem der schönsten Golfplätze geworden, die er je gesehen hatte. Und er hatte schon viele Golfplätze gesehen. Eine Reihe davon gehörte bereits ihm und seinen Partnern. Nun war auch dieses Juwel Teil seines Sylter Imperiums geworden, die Föhrer guckten in die Röhre. Die schöne Prinzessin hatte es als Sahnehäubchen noch oben drauf gegeben. Er würde sie schon bald auf einem schneeweißen Pferd nach Hause tragen. „Oder besser noch auf einem Rappen“, dachte er mit zynischem Lächeln, denn auch im Spiel mit ihr waren seine Karten von vornherein gezinkt gewesen.
Ein sanfter Wind strich von Westen her über die kurzgestutzten Halme des Golfcourts. Er trug kühle, salzige Meeresluft heran. Heiko Thiemann sog sie tief in sich hinein. Er war ein Inselmensch. Ein Nordseeinsel-Mensch. Niemals hätte er woanders leben wollen. Geboren war er… niemand weiß wo. Aber aufgewachsen war er auf Amrum. Später dann war Sylt seine Heimat geworden. Von dort aus hatten er und sein Partner nun die Hände wieder nach Amrum ausgestreckt, das Golfresort würde ihr Brückenkopf sein. Der Partner… nun ja, das war das nächste Thema, das anzugehen war. Er teilte nicht gern.
Der Wind frischte auf. Eine Bö traf ihn so plötzlich und unerwartet, dass sie ihn fast hinunterblies von diesem Hügel, unter dem ein längst zu Staub zerfallener Stammesführer aus der Jungsteinzeit begraben lag. Aber er fing sich wieder.
Von Osten her näherten sich Gänse. Er wusste, worauf sie aus waren: auf das frische Grün seines teuer angelegten Rasens. Gelacht hatte der Landwirt, als er kürzlich auf der Ratsversammlung den wahren Grund erfuhr, warum ihm jemand seine Äcker für einen horrenden Preis abgekauft hatte.
»Einen Golfplatz mit Rasen wollt ihr anlegen? Na, dann mal viel Spaß mit den Gänsen«, hatte er gehöhnt.
»Aber meinen Rasen werdet ihr nicht fressen«, grinste Thiemann bitter und blickte den Gänsen entgegen. »Kommt nur her, ihr werdet euer grünes Wunder erleben.«
Ein ganzes Bataillon von Laserstrahlern hatte er auf unzählige Pfähle montieren lassen, die rund um den Golfcourt aufgestellt worden waren. Kameras zeichneten jede Bewegung auf. Ein eigens darauf programmiertes Computerprogramm würde die giftgrünen Laserstrahlen und ein Bündel weiterer Überraschungen gezielt auf die Gänse loslassen und sie bei jeder Landung gleich wieder zum Teufel jagen. So etwas hatten sie schon auf Sylt erfolgreich installiert. Hier auf Amrum kam die neueste Generation dieser Flugabwehr zum Einsatz, listenreich gesteuert durch künstliche Intelligenz. Hier war alles vom Feinsten, auch bei diesem Detail.
»Kein Halm den Rasendieben«, brüllte Thiemann den Gänsen entgegen und stieß höhnisch lachend die Faust in den Himmel hinauf.
Doch mit einem Mal veränderte sich etwas, die Stimmung war gekippt. Thiemanns Zuversicht schwand, ein eisiger Schauder kroch ihm über den Rücken und stellte sein Nackenhaar senkrecht auf. Die Gänse waren groß. Größer als sie hätten sein dürfen. Und es waren viele. Unglaublich viele. Hunderte, tausende, zehntausende Vögel näherten sich von Föhr her der Insel. Es war eine riesige schwarze Wolke, die sich einem Gewitter gleich auftürmte, sich unfassbar schnell heranschob und bald schon den gesamten Horizont bedeckte. Sie kamen nun nicht mehr nur von Osten, sondern von überall her, vom Festland, von den Halligen, sogar von Westen, von den Dünen herab. Es wurde dunkel wie in der Nacht und frostig-kalt.
Plötzlich war sich Thiemann auch gar nicht mehr sicher, dass die Gänse seinen Rasen zum Ziel hatten. Schlagartig wurde ihm klar: Sie wollten ihn! Panik packte seinen Körper und seinen Geist so heftig, wie er es nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Er wollte fliehen, aber er konnte nicht. Etwas hielt ihn fest, umschloss seine Knöchel.
Thiemann blickte hinunter, doch in dem dämmerigen Licht konnte er nichts erkennen. Heftig zog und rüttelte er mit seinen Beinen, stemmte sich gegen das, was ihn da hielt. Aber vergebens. Er zerrte und zerrte, doch er kam nicht los.
Nun waren auch die Gänse da. Riesengroß und kreischend umflatterten sie ihn, trafen seine Beine, seinen Kopf mit ihren mächtigen Schwingen, hackten im Flug nach seinem Gesicht. Er wollte um sich schlagen, doch er konnte es nicht. Genau wie seine Beine, hielt irgendetwas auch seine Arme fest.
Thiemann sackte zusammen, fiel. Und im Fallen sah er, was seine Knöchel umfasst hielt. Das Grauen war allumfassend. Hände hatten ihn aus dem Hünengrab heraus gepackt. Erdige, sandige, halb verweste Hände mit bläulich braunem Fleisch, aus dem blanke Knochen in weißlich-bleichem Schimmer herausstachen. Er strampelte mit den Beinen, aber gegen diese Hände kam er nicht an. Mit letzter Kraft versuchte er, sich aufzurichten, aber er schaffte es nicht. Wie ein Käfer auf dem Rücken lag Thiemann festgezurrt auf diesem Grabhügel, gehalten von toten Händen und attackiert von fliegenden Bestien.
Immer heftiger trafen die Flügel der Gänse sein Gesicht. Waren es anfangs eher kleine Klapse gewesen, so steigerten sie sich nun zu heftigen Schlägen. Dann traf ein Flügel so hart sein Knie, dass er laut aufschrie. Doch sofort drückten sich Federn in den zum Schrei geöffneten Mund, erstickten den Ton und ließen ihn würgen. Schlagartig wurde Thiemann wach. Doch das Wachwerden war keine Erlösung. Der Albtraum ging weiter – oder vielmehr, er ging jetzt erst richtig los.
– 2 –
»Und was hat er gesagt, wie das passiert ist?«, fragte Hark Petersen.
Der Kriminalhauptkommissar schaute seine frisch gebackenen Assistenten Moritz Müller und Maximilian Boldanitsch erwartungsvoll an. Er war nicht nur gespannt, was passiert war, sondern auch, wie die beiden damit umgegangen waren. Schließlich war es für den rundlichen Kriminalmeister Müller und den langen, dürren Kriminalmeister Boldanitsch erst ihr dritter Arbeitstag im Husumer Revier. Sie waren ihm auf seinen und ihren Wunsch hin von Flensburg zugeteilt worden, nachdem ihr früherer Chef Manfred Brunswig schmachvoll aus dem Dienst entlassen worden war.
Nun waren sie schon an ihrem zweiten Arbeitstag mit einer mysteriösen Schussverletzung konfrontiert worden, während Petersen nicht vor Ort, sondern auf einer Kriminalistentagung im Innenministerium gewesen war. Das Krankenhaus hatte die Husumer Wache gestern vorschriftsgemäß über ein Schussopfer informiert, das dort eingeliefert worden war, und von Kiel aus hatte Petersen die beiden angewiesen, schon mal ohne ihn das Schussopfer, den Rettungsdienst und die Ärzte zu befragen.
»Er sagt, er sei gestolpert, und dabei habe sich ein Schuss gelöst. Dummes Versehen, aber nichts für die Polizei, findet er.«
»Und was findet ihr?«
»Wir finden«, antwortete Müller nach kurzer Blick-Absprache mit Boldanitsch, »dass das kompletter Unfug ist.«
»Weil…«
»Weil sich doch keiner wegen Stolpern mit ‘nem Gewehr in die Schulter schießt«, erklärte Boldanitsch eifrig.
»Und weil es ein Steckschuss war«, ergänzte Müller. »Aus so kurzer Distanz wäre die Kugel glatt durchgegangen. War immerhin ein Jagdgewehr.«
»Die Kugel…«
»Haben die Ärzte rausgeholt. Wir haben sie zur KTU geschickt. Das Ergebnis sollte bald eintrudeln.«
»Durchsuchungsbeschluss…«
»Ist beantragt. Kann ebenfalls nicht mehr lange dauern. Verdacht auf Schießerei mit möglicherweise weiteren Verletzten, vielleicht sogar Toten.«
»Gute Arbeit!«
»Danke Chef!«
»Wer fährt?«, fragte Petersen auf dem Weg zum Auto.
Es würde das erste Mal sein, dass sie gemeinsam im Dienstwagen saßen. Als Leif Hansen sein Assistent war, fuhr grundsätzlich Leif. Petersen hatte es geliebt. Mit Leifs Nachfolger Max Weber an seiner Seite musste er hingegen immer selber fahren und hatte es gehasst.
Die beiden Angesprochenen guckten einander unschlüssig an, wollten nichts Falsches sagen. Schließlich rang sich Boldanitsch doch zu einer Antwort durch.
»Mit Brunswig als Boss saß immer Moritz am Steuer. Er fährt super. Und gern.«
»Hast den Job«, freute sich Petersen, warf Müller den Schlüssel zu und ließ sich zufrieden auf den Beifahrersitz fallen.
Müller steuerte den Dienst-BMW ruhig, routiniert und weitgehend im Rahmen der erlaubten Geschwindigkeit in Richtung Norden. Die Fahrt dauerte gerade mal eine halbe Stunde.
Der Betrieb des angeschossenen Roger Friedrichsen lag nördlich von Bredstedt direkt an der Bundesstraße. Die Einfahrt führte auf eine asphaltierte Fläche, an deren Ende sich ein großes, flaches Gebäude mit weiß gestrichenen Backsteinwänden und rotem Ziegeldach erhob. „Forellenhof Friedrichsen“ las Petersen auf einem Emailschild links unter dem Ziegeldach. Rechts schien der Wohnbereich zu sein. Dort gab es zwei breite Fenster mit braunen Rahmen, Topfpflanzen auf den Fensterbänken und zugezogenen weißen Gardinen. Zwischen ihnen eine Eingangstür mit bernsteinfarbenen Strukturglasscheiben. An der linken Seite des Hauses gab es ein ausladendes Tor und eine Verkaufsstelle für Fisch, an deren verglaster Ladentür ein rotes Schild mit der schwarzen Aufschrift „geschlossen“ hing.
Die Fischteiche begannen direkt hinter dem Haus, hatte Petersen während der Fahrt auf der Satellitenkarte seines Routenplaners gesehen. Sie zogen sich als lange, schmale Schnur viele hundert Meter durch begrüntes Gelände in Richtung Osten.
Müller parkte den BMW neben einem Jeep, dessen offene Ladefläche fast komplett von einem voluminösen Plastiktank mit geschlossenem Deckel eingenommen wurde. Vor dem Wohnbereich stand ein älterer, aber gepflegt wirkender Opel Astra. Sie klopften gegen den Holzrahmen der Haustür. Eine Klingel gab es hier nicht.
Eine korpulente Frau von vielleicht vierzig Jahren, mit einem bunten Kopftuch um die blonden Haare erschien im Eingang. Ihre linke Hand steckte in einem blutigen Gummihandschuh, an den Füßen trug sie Gummistiefel, ihre fast bodenlange weiße Fleischerschürze war mit Blutspritzern übersät. So könnte jemand aussehen, der gerade ein Mordopfer zerlegt, dachte Petersen.
»Ja bitte?«, fragte die Frau lächelnd.
Das Lächeln wich schlagartig nervöser Unsicherheit, als sie sich als Beamte der Mordkommission Husum vorstellten. Hereingebeten wurden sie trotzdem.
»Ich bin gerade beim Schlachten«, erklärte die Frau und deutete mit einer fahrigen Handbewegung auf ihre Schürze. »Aber Sie wollen ja bestimmt zu meinem Mann. Ich hab ihn heute Morgen aus dem Krankenhaus abgeholt. Er ist im Büro.«
»Hatten Sie den Rettungswagen gerufen?«, bremste Petersen sie, als sie sich abwendete, um in Richtung Büro vorauszugehen.
Sie blieb stehen und drehte sich wieder ganz den Polizisten zu.
»Ja. Wieso?«
»Wann war das?«
»Gestern Morgen. Muss so gegen sechs gewesen sein. Ich war grad erst beim Kaffee.«
»Und ihr Mann?«
»Na, der war draußen bei den Teichen mit…, äh…, mit seinem Gewehr. Kormorane verscheuchen.«
»Wo genau war er da?«
»Was sollen denn die ganzen Fragen? Na, hinten am Rosenteich. Den nennen wir so, weil da die Heckenrosen so schön blühen. Lag auf dem Boden und stöhnte vor Schmerz.«
»Allein?«
»Ja klar, wieso?«
»Woher wussten Sie, dass er dort und dass er verletzt war?«
»Naja, weil…«, setzte die Frau an, verstummte dann jedoch schlagartig.
Petersen wartete ein paar Sekunden, aber es kam nichts mehr.
»Weil…?«, hakte er nach.
Die Frau machte ein bedrücktes Gesicht, schien mit sich zu ringen, dann lächelte sie.
»Natürlich! Ich hab den Schuss gehört, bin raus, und da hab ich ihn gefunden. Und dann gleich die 112 gewählt.«
»Aber er wollte da draußen doch Kormorane mit Schüssen vertreiben, haben Sie gesagt. Wieso waren Sie dann besorgt, als Sie den Schuss gehört hatten?«
»Ne, jetzt is Schluss«, schimpfte die Frau, wandte sich abrupt um und rauschte ab. »Ich bring Sie zu Roger. Fragen Sie das alles gefälligst ihn.«
Das Büro war ein ungemütlicher Raum im hinteren Bereich des Hauses, mit Blick auf die Teiche. Regale mit Aktenordnern zogen sich an den Wänden entlang, an den wenigen freien Stellen dazwischen hingen Bilder von Teichen und Fischen. An der Wand über dem Schreibtisch hing der große rechteckige Jahreskalender eines Fischfutteranbieters mit handschriftlichen Notizen bei einzelnen Tagen.
Roger Friedrichsen saß am Schreibtisch vor einem Bildschirm, auf dem Petersen ein Buchhaltungsprogramm erkennen konnte. Mühsam tippte er mit dem Zeigefinger der linken Hand auf einer Tastatur herum. Der rechte Arm lag in einer Schlinge und war am Körper fixiert. Als seine Frau mit den Polizisten eintrat, drehte er sich um und zuckte schmerzerfüllt zusammen, als die plötzliche Bewegung ihn die gerade operierte und genähte Schusswunde spüren ließ. Trotzdem schaffte er es noch, ihnen ein Lächeln entgegen zu strahlen.
Der Fischfarmer war ein großer, schlanker, unglaublich sympathisch wirkender Mann, der, obwohl sicherlich kaum älter als seine Frau, grabentiefe Falten im braungebrannten, wettergegerbten Gesicht hatte.
»Oh, die Herren von der Polizei. Und diesmal sogar mit Verstärkung. So viel Aufwand für meinen vertrottelten Unfall. Ich muss mich wirklich entschuldigen.«
»Oder, besser noch, Sie erzählen uns, wie es wirklich zu diesem „Unfall“, wie Sie es nennen, gekommen ist und ersparen uns damit noch mehr Aufwand«, sagte Petersen grob und stellte sich vor.
»Mordkommission«, lachte Friedrichsen und ignorierte Petersens strenges Auftreten. »Haha! Ich lebe doch noch.«
»Aber vielleicht leben der oder die, mit denen Sie sich einen Schusswechsel geliefert haben, nicht mehr«, konterte Petersen.
»Ach so, deshalb.« Friedrichsen schien ehrlich überrascht über diese Möglichkeit. »Klar, ne Schießerei wäre natürlich möglich. Aber da kann ich Sie total beruhigen. Ich habe ganz allein auf mich geschossen.«
»Die Wahrheit, bitte!«
»Aber wenn es doch die Wahrheit ist!«
»Dass Sie sich morgens um sechs hinten am Rosenteich aus einem völlig unmöglichen Winkel einen völlig unmöglichen Steckschuss in die Schulter verpassen? Vergessen Sie’s.«
»Dann beweisen Sie mir mal was anderes«, lachte Friedrichsen unsicher.
»Muss ich nicht. Kein Richter wird Ihnen den Unfug glauben.«
»Richter? Wieso denn Richter?«
»Die Vertuschung einer Straftat ist eine Straftat. Umso mehr, wenn es bei der Straftat um einen Mordversuch geht.«
»Mordversuch? Wieso denn Mordversuch? An wem denn?«
»An Ihnen vielleicht? Oder, wie gesagt, an jemandem, auf den Sie geschossen haben?«
Friedrichsen lächelte nicht mehr. Sein dunkelbraunes Gesicht hatte ein tiefdunkles Rot angenommen. Er wirkte ratlos.
»Sag’s ihnen, Ro«, mischte sich die Frau von hinten ein. »Hat doch keinen Zweck so.«
»Sag du es ihnen, Ina«, bat er.
Ina Friedrichsen blickte ihn unsicher an, dann hellte sich ihr Gesicht auf.
»Okay, hilft ja nichts. Sie wollen die Wahrheit, hier ist sie: Wir waren beide heute Morgen da draußen. Kormorane verscheuchen. Nicht töten, natürlich. Auf keinen Fall töten. Töten darf man ja nur Jungtiere, auch wenn’s gerade die alten Viecher sind, die einen komplett ruinieren. Junge treiben sich ja noch nicht rum. Ich sehe, da vorne flattert was, also schieße ich in die Luft. Plötzlich schreit Roger auf, weil ihn die Kugel getroffen hat. Ich dachte, der steht ganz woanders. Und damit wir keine Scherereien bekommen, haben wir halt das mit dem Stolpern erfunden. Tschuldigung.«
»Und wenn wir jetzt Ihre Hände untersuchen, dann finden wir sicherlich Schmauchspuren darauf, nicht wahr?«, fragte Petersen verschmitzt grinsend.
Bei Ina Friedrichsen erstarb das Lächeln.
»Äh, hmmh, ne… Handschuhe… Ich hab Handschuhe angehabt«, stotterte sie und deutete auf ihre linke Hand, die immer noch in dem Gummihandschuh steckte.
»Dann finden wir Schmauchspuren an Ihren Handschuhen?«
Jetzt liefen Ina Friedrichsen Tränen über das Gesicht. In einer hilflosen Geste breitete sie die Arme aus, drehte sich um und lief davon.
»Ich kann das einfach nicht«, hörten die Polizisten sie im Verschwinden schluchzen.
Ihr Mann schaute ihr bedröppelt hinterher.
»Und jetzt bitte die dritte und endlich wahre Version«, forderte Petersen ihn auf.
»Geht nicht. Da belaste ich mich selbst.«
»Schweigen ist Ihr gutes Recht. Aber meinen Sie nicht, dass wir die Wahrheit ohnehin ziemlich schnell herausfinden, wenn wir hier erst einmal alles auf den Kopf stellen? Apropos: Hier ist der Durchsuchungsbeschluss.«
Petersen hielt dem Fischzüchter das Dokument hin, aber der machte keinerlei Anstalten, es anzuschauen, also steckte der Kommissar es wieder ein.
»Es geht ja nicht nur um mich«, druckste Friedrichsen schließlich und schaute düster drein. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll.«
Bevor der Kommissar darauf reagieren konnte, klopfte es an den Türrahmen der offenstehenden Bürotür. Ein untersetzter Mann in Arbeitskleidung stand dort mit ängstlichem, aber entschlossenem Gesichtsausdruck. Er legte die Handgelenke aneinander und streckte sie den Polizisten entgegen.
»Rinat, lass das«, rief Friedrichsen erschreckt.
Petersen runzelte die Stirn. »Warum machen Sie das?«, fragte er den Mann, der offenbar Rinat hieß.
»Ich geschießen.«
»Was meinen Sie? Was schießen Sie?«
»Ich schießen Roger. Roger gut. Ich Gefängnis, okay?«
»Ne, nichts ist okay. Nehmen Sie die Hände runter. Und Sie«, Petersen wandte sich an Friedrichsen, »erzählen jetzt mal die ganze Geschichte.«
Diese „ganze Geschichte“ war eigentlich sehr kurz: Rinat war Kasache mit anerkanntem Asylantrag und Arbeitserlaubnis und war beim Forellenhof fest angestellt. Er und sein Chef hatten sich morgens auf die Lauer gelegt, um Kormorane „zu verscheuchen“. Rinat hatte auf einen Vogel gezielt, der auf einem Teichbelüfter saß und, wie Friedrichsen beschwor, „definitiv wie ein Jungvogel aussah“, obwohl das um diese Jahreszeit eigentlich gar nicht sein konnte. Aber Rinat hatte dabei nicht den Vogel, sondern den Belüfter getroffen. Die Kugel prallte ab, und der Querschläger traf Friedrichsen an der Schulter. Rinat leistete erste Hilfe, dann holte er die Chefin, die den Notruf wählte. Während sie auf den Rettungswagen warteten, legten sie sich die Version mit dem Stolpern zurecht, damit Rinat nicht in Schwierigkeiten käme und vielleicht sogar ausgewiesen werden würde.
Das Erzählen dieser kurzen Geschichte nahm eine volle halbe Stunde in Anspruch, weil Friedrichsen dabei immer wieder seinem Ärger über die seiner Meinung nach viel zu vielen Kormorane Luft machte.
»Inzwischen ist das so, dass wir in Dänemark eigentlich keine Besatzfische mehr kaufen, sondern Vogelfutter. Kaum haben wir die Fischchen in unsere Teiche gesetzt und ein bisschen herangefüttert, schon stürzen sich die Kormorane auf sie. Wer soll da wirtschaftlich überleben können! Ach, hören Sie auf mit staatlichen Entschädigungen. Die kriegen ja nur Betriebe in Vogelschutzgebieten, und auch da reichen sie vorn und hinten nicht. Ist genau wie bei den Schafen und den Wölfen. Am Ende wird es uns Fischzüchter einfach nicht mehr geben – und keine Schäfer, keine Schafe, keinen Deichschutz. Von wegen bedrohte Spezies: Hier leben doch tausende von Kormoranen. Die einzig bedrohte Spezies hier sind wir, die Teichwirte.«
Nach dieser und ähnlichen Schimpftiraden ließen sich die Polizisten zum Rosenteich führen. Die Spuren dort schienen die letzte, vermutlich wahre Version des Hergangs zu bestätigen und Petersen befand, dass es ein unangemessener Aufwand wäre, ein Team der KTU, der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle, kommen zu lassen. Ein paar Beweise wollte er aber vorsichtshalber trotzdem sichern.
Rinat zeigte, wo er gestanden hatte. Eine Patronenhülse in der Nähe wanderte in einen Asservatenbeutel. Dann zeigte Friedrichsen, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Boldanitsch füllte Proben von den dort reichlich vorhandenen Blutspuren in weitere Beutelchen. Müller fotografierte derweil alles eifrig.
Während seine Assistenten damit vollauf beschäftigt waren, rief Petersen die KTU an und fragte nach der Kugel. Ja, die sei inzwischen untersucht worden und eindeutig verformt. Solch eine Verformung konnte es bei einem Steckschuss im Muskel nicht geben, versicherte der KTU-Experte. Die Kugel müsse schon vor Eintritt in die Schulter auf etwas Hartes geprallt sein: »Sieht aus wie ein Querschläger, wenn Sie mich fragen.«
Der Teichbelüfter wies eine deutliche Beule auf. Petersen schätzte, dass sie ziemlich genau dem Winkel zwischen dem Schützen und dem Opfer entsprach, und wies Müller an, auch davon Fotos zu machen – einmal aus der Richtung, wo sie die Patronenhülse gefunden hatten, einmal von dort, wo Friedrichsens Blut auf dem Gras zu sehen war.
Weitere Blutspuren oder Hülsen waren nicht zu entdecken, und es lag auch nirgendwo eine Leiche herum. Damit sah Petersen die Untersuchung als abgeschlossen an.
Müller und Boldanitsch waren ein eingespieltes Team, das schon seit langem miteinander arbeitete. Ihre Arbeitsaufteilung war klar geregelt: Müller fuhr, Boldanitsch sorgte fürs Protokoll. Das tat er schon während der Rückfahrt nach Husum auf dem Rücksitz des Dienstwagens. Müller ging dafür besonders sanft in die Kurven. Petersen genoss die Ruhe, um den Fall, der nur ein halber war, zu durchdenken. Das einzige Vergehen an dem Ganzen war seiner Meinung nach, dass der Kasache keinen Waffenschein hatte und daher nicht hätte schießen dürfen. Diese Ordnungswidrigkeit ließ sich aber wohl mit einem Verwarngeld aus der Welt schaffen, wenn das überhaupt irgendwo offiziell werden musste.
Ganz abgehakt war die Sache dennoch nicht, weil die Krankenkasse Auskunft über den Verursacher der Behandlungskosten verlangen würde.
Er rief Friedrichsen an und schilderte ihm diese Überlegung.
»Und wenn ich meine Behandlung gleich selber zahle? Ich meine, das Geld holen die mit Sicherheit von Rinat, der ja gar nicht Schuld war, also zahle ich das sowieso.«
»Guter Plan«, bestätigte der Kommissar.
Kaum hatte Petersen aufgelegt, da rief die Zentrale in Husum an.
»Hark, endlich! Wieso war denn die ganze Zeit besetzt? Ein Mordfall auf Sylt! Ganz große Sache: Heiko Thiemann. Von dem hast du bestimmt schon mal gehört. Stinkreicher Promi, große Nummer auf der Insel. Wo steckt ihr? Bredstedt? Na, dann am besten gleich das Blaulicht aufs Dach, umdrehen und mit Vollgas zum Autozug. Wir geben da Bescheid, dass ihr schnellstmöglich rüber müsst.«
Petersen ließ Moritz Müller den Wagen wenden. Der schien es zu genießen, nun gleich seine Fahrkünste unter Beweis stellen zu können. Für die normalerweise 25 Minuten von Bredstedt zur Autoverladung in Niebüll brauchten sie gerade einmal die Hälfte der Zeit. Zunächst war Hark deutlich nervös, als es mit mehr als 200 Sachen über die Landstraße und im Höllentempo durch die vielen kleinen Ortschaften ging, aber Müller schien das Fahrzeug gut zu beherrschen und verlangsamte immer, wenn es angebracht war. Der Kommissar entspannte sich fast so, wie er es bei Leif Hansen in ähnlichen Situationen hatte tun können.
Ein Bahnmitarbeiter wartete bereits an der Einfahrt zur Verladestation. Er trug eine giftgrüne Warnweste über der ebenfalls grünen Ecofare-Uniform, die deutlich machte, dass der Konzern von Thomas Matsen nun auch diese Schaltstelle im Bahnverkehr nach Sylt komplett übernommen hatte. Mit einer Kelle und wichtigtuerisch ausladenden Bewegungen winkte der Mann sie an den vielen wartenden Autos vorbei. An der Zahlstation stand ein zweiter und winkte sie direkt durch, ein dritter wies ihnen dahinter den Weg zur Laderampe, die sie hinauf auf die obere Ladefläche des Autozuges brachte. Der war bereits so gut wie voll beladen, und kaum hatte Müller den Wagen zum Stillstand gebracht, setzte sich der Zug auch schon in Bewegung.
Petersen staunte über die tolle Unterstützung, die Ecofare hier mal wieder der Polizei zukommen ließ. Und wie immer, wenn Ecofare und Thomas Matsen im Spiel waren, schwang in seinem Staunen auch eine gehörige Portion Misstrauen mit. Er war sich bei dem Konzernchef nach wie vor nicht sicher, was dessen wahre Beweggründe für all sein so positiv erscheinendes Handeln waren. Zwar kannte er ihn aus seiner Kindheit auf Amrum als netten Kerl. Außerdem verband Matsen mit Harks Frau Frederike eine wirklich enge Freundschaft aus Studentenzeiten. Aber Petersen fand es doch irgendwie irritierend, bei wie vielen Kriminalfällen der letzten Jahre der Konzernchef zum Kreis der Verdächtigen gehört hatte. Als studierter Polizist stand er „Zufällen“ misstrauisch gegenüber, auch wenn sich der Verdacht jedes Mal in nichts aufgelöst hatte. Und jetzt, auf dem Weg zu einem Mordfall, waren es schon wieder Matsens Leute, die er als erstes zu Gesicht bekam und die ihn durchwinkten.
Während sie bei herrlichem Sonnenschein mit offenen Fenstern ihre ruhige Zugfahrt im Auto durch das Marschland, über den Deich und den von der Nordsee umspülten Bahndamm zur Insel hinüber genossen, erzählte Hark den neuen Kollegen von seinen Gedanken zu Matsen und dem Ecofare-Konzern.
»Verstehe ich nicht«, meinte Boldanitsch nur. »Ecofare betreibt doch inzwischen fast alle Züge und Fähren hier in der Gegend. Da ist das doch ganz normal, wenn man überall auf die stößt.«
»Normal? Ja, da hast du wohl recht. Das ist ganz einfach normal.«
– 3 –
So schnell, wie sie beim Verladen in Niebüll auf den Zug gekommen waren, so langsam ging es in Westerland wieder hinunter. Sie waren als letztes Fahrzeug auf die obere Waggonebene gefahren. Jetzt mussten alle anderen vor ihnen hinunterfahren, bevor sie selbst es konnten. Die Polizisten versuchten, es gelassen zu nehmen.
Auch in Westerland selbst ging es erst einmal nicht so recht voran. Der Strom der ankommenden Fahrzeuge mischte sich mit dem ohnehin zähen Verkehr des Sylter Hauptortes zu einem dickflüssigen Brei, der das Durchkommen trotz Blaulicht und Sirene schwer machte. Erst als die letzten Häuser von Westland hinter ihnen zurückgeblieben waren, konnte Müller auf der einzigen Straße, die nach Süden führte, ein wenig mehr Gas geben. Viel ließ sich auf diesen letzten 15 Kilometern jedoch nicht mehr herausholen.
»Eine Stunde, vierzig Minuten. Super Zeit!«, lächelte Polizeihauptkommissar Malte Frenstrup anerkennend.
Er hatte vor einem Absperrband gewartet, das über eine unscheinbare sandige Einfahrt zwischen Buschreihen gespannt war. Der Sylter Revierleiter schüttelte seinem alten Freund Petersen herzlich die Hand. Dann bemerkte er Müller und Boldanitsch, die sich zögernd im Hintergrund gehalten hatten, und sein Lächeln erstarb.
»Hab schon gehört, dass du Max und Moritz geerbt hast«, sagte er laut genug, dass die beiden es hören konnten. »Tut mir leid für dich.«
»Die Jungs sind in Ordnung«, grummelte Petersen, dessen Lächeln ebenfalls erstorben war. »Miss sie nicht an ihrem Ex-Boss. Und lass das mit dem „Max und Moritz“ sein. Die Kriminalmeister gehören jetzt zu mir.«
Frenstrup schaute überrascht von Petersen zu seinen Assistenten und wieder zurück. Dann schien er sich einen Ruck zu geben. Mit zwar durchaus angespanntem Lächeln, aber ausgestreckter Hand ging er auf Müller und Boldanitsch zu.
»Na, dann mal auf einen Neuanfang, Jungs.«
»Auf einen Neuanfang«, sagten auch die Kriminalmeister.
Ihr Lächeln war ähnlich steif, aber sie nahmen die ihnen ausgestreckte Hand erleichtert an.
»Und nichts für Ungut wegen letztem Mal«, fügte Boldanitsch mit wieder wachsendem Selbstbewusstsein hinzu. »Das waren nicht unsere Entscheidungen gewesen, und es war nie die Art, wie wir gerne sind.«
»Na, dann haben wir jetzt ja die Vergangenheit hinter uns gelassen und können uns um den Tatort kümmern«, durchbrach Petersen die aufkommende peinliche Stille. »Habt ihr schon irgendetwas rausgefunden, Malte?«
Der Revierleiter hob einladend das Absperrband hoch und führte die drei Kriminalbeamten einen langen Sandweg entlang. Erst nach dreißig oder vierzig Metern kam langsam das reetgedeckte zweistöckige Haus in Sicht, das ihr Ziel war. Es sah aus wie viele Häuser hier auf der Insel. Die Backsteinwände waren weiß gestrichen, die Sprossenfenster und die breite Haustür in einem hellen, bläulich wirkenden Grau. Um die Haustür rankte sich, auch das typisch und fast schon Klischee für die Inseln, eine üppig dunkelrot blühende Kletterrose.
Das Gebäude lag eingebettet zwischen Dünen, Buschwerk und niedrigen Kiefern ganz alleine da. Eine Begrenzung des Grundstücks war nicht auszumachen, weit und breit kein Nachbarhaus zu sehen. Petersen fragte sich, wie viele Millionen allein dieses Riesengrundstück wert sein mochte. Hier auf Sylt war Bauland so teuer wie sonst kaum irgendwo in Deutschland. Und dann erst das Haus…
Während sie auf das Haus zugingen, erklärte der Sylter Revierleiter, was sie bislang herausgefunden hatten.
Das Opfer hieß Heiko Thiemann. Er war Gesellschafter einer Firmengruppe, der auf Sylt ein gutes Dutzend Hotels, mehrere Gaststätten und ein Golfplatz gehörten. Gerüchten zufolge verfügte die Gesellschaft über viele weitere Golfanlagen und Hotels im In- und Ausland, aber das wusste man hier nicht so genau, und Frenstrup und seine Leute hatten es noch nicht überprüfen können.
»Kein Problem, das übernehmen wir dann«, bestimmte Petersen. »Ich habe Ella schon von unterwegs darauf angesetzt.«
Ella hieß eigentlich Elke Finkenbein. Aber weil sie neben ihrem Polizeijob auch eine über Schleswig-Holstein hinaus bekannte und geschätzte Jazzsängerin war, wurde sie von den Kollegen nur mit ihrem Künstlernamen angesprochen. Die korpulente Mittfünfzigerin war das Rückgrat in Petersens Team, wenn es um jedwede Art von Recherche vom Schreibtisch aus ging. Niemand verstand es so gut wie sie, an Informationen heranzukommen und dann das Wichtigste daraus für ihren Chef in Kurzberichten zusammenzufassen. Hark konnte sich sicher sein, schon bald alles Offizielle und manch Inoffizielles über das Opfer und sein Umfeld zu erfahren.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Petersen seinen Sylter Kollegen.
»Zsófia Bacsinszky, die Haushälterin. Aber leider erst, nachdem sie bereits die gesamte untere Etage gründlich geputzt und dabei wohl alle dort möglicherweise existierenden Spuren beseitigt hatte. Der Tote liegt in seinem Schlafzimmer im Obergeschoss, wo sie immer erst ganz zum Schluss sauber macht, wie sie sagt. Weil ihr auf den ersten Blick klar war, dass Thiemann ermordet worden war, hat sie sofort den Polizeinotruf gewählt.«
Die ersten Beamten waren schon bald vor Ort gewesen. Entsetzt vom Anblick, der sich ihnen bot, hatten sie den Revierleiter und der wiederum sämtliche Einsatzkräfte der Insel alarmiert. Außerdem die Mordkommission, die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin.
»Gibt es Mitbewohner oder Nachbarn, die etwas gesehen haben könnten?«, wollte Petersen wissen.
»Es gibt keine Mitbewohner, soweit wir wissen, und das nächstgelegene Haus ist über 100 Meter weit weg. Wir haben schon eine Reihe von Häusern in der Umgebung abgeklappert. Jetzt in der Saison sind sie zwar alle bewohnt, aber niemandem scheint etwas aufgefallen zu sein. Und es hat auch niemand die Schreie gehört.«
»Schreie?«
»Du wirst es gleich sehen.«
Sie waren beim Haus angekommen.
»Spurensicherung schon da?«
»Die kommen erst mit der nächsten Bahn. Aber der Medizinmann ist schon oben«, antwortete Frenstrup und wies den Kollegen, der die Eingangstür bewachte, an, den Neuankömmlingen Schutzkleidungssets zu geben. »Ich lass euch dann mal allein. Zum Tatort einfach geradeaus und rechts die Treppe rauf. Die Haushälterin ist in der Küche, gleich hier links hinterm Wohnzimmer.«
Petersen schickte Boldanitsch in die Küche und ging zusammen mit Müller die breite Holztreppe hoch in den ersten Stock. Das geräumige Schlafzimmer, das zum Tatort geworden war, lag der Treppe direkt gegenüber. Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf ein breites Doppelbett mit schwungvoll geschmiedeter Einfassung an der Vorder- und Rückseite. Bettdecken und Kopfkissen waren zu einem Haufen auf den Boden geworfen worden.
Der Tote lag mittig auf dem Bett auf dem Rücken. Er trug einen anthrazitfarbenen Seidenpyjama mit kurzen Hosen und silbern leuchtenden asiatischen Schriftzeichen auf dem kurzärmeligen Oberteil, dessen Farbe und Glanz dem graumelierten Haar des Opfers ähnelte. Die braungebrannten Hand- und Fußgelenke waren mit Handschellen an den Seitenständern der Bettumrandung festgebunden. Die weit offenstehende Mundhöhle schien vollständig von einem Stück Stoff gefüllt zu sein. Die Augen waren aufgerissen, das bleiche Gesicht drückte Entsetzen aus und Schmerz. Auf der Stirn klafften zwei Wunden, aus denen Blut in zarten Rinnsalen auf das weiße Bettlaken gelaufen war. Es hatte sich eine dunkelbraun verkrustete Fläche gebildet. Es roch nach Blut, Leiche und Urin.
Neben dem Bett stand ein Mann in der gleichen Art Schutzanzug, wie Petersen ihn trug. Er hatte sich über den Toten gebeugt und blickte durch ein Vergrößerungsglas höchst konzentriert auf dessen linkes Knie. Als er die Beamten eintreten hörte, hob er kurz den Kopf, wandte sich dann aber sofort wieder dem Knie zu.
»Moin, hallo, Herr Kommissar, ich war mal wieder früher da«, hörten die Polizisten den Mann murmeln.
Petersen hatte schon befürchtet, dass er Dr. Alfons Sandemann hier treffen würde, den völlig ungeniert und schmerzend schlecht vor sich hin reimenden Chefpathologen der Kieler Gerichtsmedizin. Bis vor kurzem noch hatte Hark dieses pietätlose Gereime zur Weißglut getrieben, inzwischen aber schaffte er es, das professionell an sich abgleiten zu lassen und sich auf die unbestritten hohe Fachkompetenz des Mediziners zu konzentrieren. Meistens jedenfalls.
»Moin Doktor, haben Sie dank Ihres Zeitvorsprungs schon Infos für mich?«
»Ihre Hoffnung ehrt mich sehr: Der Mann ist tot, das fiel nicht schwer.«
»Okay, das kann ich auch selber auf den ersten Blick erkennen«, grinste Petersen. »Aber wie steht es um eine Einschätzung zum Wann und Wie?«
»Es war gewiss ein dumpfer Schlag vor deutlich mehr als einem Tag.«
»Und ohne Reim?«
»Rechts in der Ecke liegt ein Golfschläger, ein Driver für Herren«, erklärte Sandemann nüchtern und richtete sich auf. »Er ist aus massivem Hartholz. Könnte zu den beiden vermutlich tödlichen Wunden auf der Stirn passen wie auch zu dem vor dem Tod mit mehreren Schlägen komplett zerschmetterten linken Knie. Da ich angesichts der geschlossenen Fenster und der bis zum Auffinden der Leiche geschlossenen Zimmertür von einer relativ konstanten Temperatur ausgehe, wage ich unter Vorbehalt späterer Korrektur die Aussage, dass der Tod vor ziemlich genau 36 Stunden eintrat, also in der Nacht von Montag auf Dienstag. Nach Mitternacht, aber vor vier Uhr. … Weiteres erfahrt ihr morgen, dafür werd’ ich gerne sorgen.«
»Vielleicht noch eine erste Einschätzung, was hier passiert sein könnte?«, bat Petersen.
»Das wäre sicherlich zu früh, selbst wenn ich mich noch mehr bemüh’.«
»Ach kommen Sie schon, Doktor, ich kenne Sie doch. Sie haben ganz bestimmt schon eine gewisse Vorstellung, was hier abgelaufen sein könnte.«
Sandemann schien es sich durch den Kopf gehen zu lassen, während er Lupe, Thermometer und anderes Gerät in seiner Tasche verstaute. Aber dann schüttelte er ablehnend den Kopf.
»Gedulden Sie sich noch ’nen Tag, weil ich nicht spekulieren mag.«
»Na gut«, gab Petersen enttäuscht auf. »Dann eben morgen. Vielen Dank jedenfalls für die erste Einschätzung, Herr Professor.«
Der Mediziner hatte den Raum verlassen, und während Müller im Eingang stehen blieb und die Atmosphäre auf sich wirken ließ, sah Petersen sich im Zimmer um. Der Golfschläger lag wie hingeworfen in einer Zimmerecke. Er hatte einen großen, tropfenähnlichen Kopf, der auf dem dünnen Schaft irgendwie unförmig aussah. Von Holz konnte Petersen nichts erkennen, aber da er wusste, dass Sandemann begeisterter Golfer war, zweifelte er nicht daran, dass sich unter der schwarzen, silbern eingefassten Oberfläche genau das befand. Auf dem Schlägerkopf konnte Petersen Blutspuren erkennen. Ebenso an der Wand der Zimmerecke, in die der Schläger vermutlich nach der Tat geschleudert worden war.
Die Wand gegenüber dem Bett wurde fast vollständig von einem deckenhohen Kleiderschrank mit Spiegeltüren eingenommen. Petersen öffnete eine der Türen und sah ein gutes Dutzend auf einer Stange aufgereihter Herrenanzüge. Hinter der nächsten Schranktür entdeckte er die passenden Hemden dazu. Eine Tür weiter hingen Freizeithemden und -hosen unterschiedlichster Art und hinter der nächsten gab es ein Dutzend Schubladen mit Unterwäsche und Socken zu entdecken. Alles machte einen extrem ordentlichen, fast pedantischen Eindruck, und es gab dort ausschließlich Männerkleidung zu entdecken, die, wie Petersen vermutete, samt und sonders dem Toten gehörte.
Als nächstes sah sich der Kommissar die Handschellen an, mit denen der Tote ans Bett gefesselt worden war. Sie sahen deutlich anders aus als die Handschellen, die er selbst im Polizeidienst verwendete. Der Stahl war schwarz lackiert, und die Bügel, die sich um die Hand- und Fußgelenke schlossen, waren mit dunkelrotem Plüsch gepolstert. Die Polsterung hatte aber nicht verhindert, dass sich Blutergüsse auf der Haut um die Bügel herum gebildet hatten. Das Opfer schien sich massiv gegen seine Fesselung gewehrt zu haben. Das linke Knie war grün-, blau- und rotviolett und völlig aus der Form geraten. Auch das rechte schien verletzt zu sein, allerdings weniger stark. Die Pyjamahose war fleckig, das Laken gelblich eingefärbt.
»Und, was meinst du?«, fragte er Müller, der immer noch im Türrahmen stand.
»Sieht aus, als wäre da ein Sexspielchen aus dem Ruder gelaufen.«
»Im Ernst jetzt? Komm mal rein und schau es dir genauer an«, forderte Petersen ihn auf.
»Ich hab ’n volles Jahr bei der Sitte in Kiel gearbeitet. Die Handschellen finde ich ziemlich eindeutig.«
»Wäre ein Indiz, fügt sich aber nur unvollständig ins übrige Bild, oder? Was siehst du sonst noch?«
»Naja, gefesselt, geschlagen, getötet. Wenn’s kein Sexding war, dann wohl ne ziemlich professionelle Aktion. Der Tote sieht kräftig aus, den wird man nicht einfach so aufs Bett drücken und fesseln können. Da brauchte es also mindestens zwei kräftige Leute. Oder sie haben ihn mit ner Waffe dazu gebracht, sich hinzulegen und festbinden zu lassen. Dann haben sie ihn gefoltert, vielleicht um Infos aus ihm rauszukriegen, und als sie die hatten, haben sie ihn mit ein paar gezielten Schlägen auf den Kopf kaltgemacht.«
»Schon besser. Aber wie hat er ihnen die Infos gegeben?«
»Häh?«
»Mit dem Stoff im Mund konnte er sicherlich nicht sprechen.«
»Verdammt, hast recht.« Müller überlegte einen Augenblick. »Vielleicht haben sie ihn erst geknebelt, als er alles gesagt hatte?«
»Du meinst, nach der vermeintlichen Folter? Damit er nicht schreit, wenn sie ihm den Schädel einschlagen?«
»Ich geb auf. Was meinst du denn, was hier passiert ist?«
»Ich? Ich hab nicht die geringste Ahnung«, sagte Hark nachdenklich. »Das ist ein Haufen Arbeit, den wir da vor uns haben.«
Im Schlafzimmer wollte Petersen sich erst einmal nicht weiter umsehen. Das konnte warten, bis die Spurensicherung dort fertig war. Jetzt interessierte ihn vor allem, was ihm die Haushälterin zum Opfer und zum Haus berichten konnte.
Zsófia Bacsinszky war eine auffallend gutaussehende Frau mit dunklem Teint. Ihre langen brünetten Haare quollen hinten aus einem einfachen, blau-weiß karierten Kopftuch heraus. Sie saß mit Boldanitsch am Küchentisch und machte auf Petersen einen ruhigen, absolut gelassenen Eindruck. Angesichts ihrer grausigen Entdeckung vor gerade mal zwei Stunden überraschte Petersen diese Gelassenheit. Die meisten Menschen waren deutlich aufgewühlter, wenn sie ein ihnen bekanntes Opfer ermordet aufgefunden hatten.
Boldanitsch hatte sein Notizbuch vor sich liegen und offenkundig schon einiges hineingeschrieben.
»Frau Bacsinszky ist Ungarin, 38 Jahre alt und in Thiemanns Firma angestellt«, berichtete der Kriminalmeister mit Blick auf seine Notizen. »Zweimal die Woche kommt sie zum Saubermachen hier in sein Privathaus. Sie hat niemanden gesehen und keine Vorstellung davon, was passiert sein könnte. Soweit sie es beurteilen kann, fehlen auch keine Wertgegenstände.«
»Seit wann arbeiten Sie für Herrn Thiemann, Frau Bacsinszky?«, wollte Petersen wissen.
»Vierzehn Jahre schon«, antwortete sie mit deutlichem Akzent.
»Hier auf Sylt?«
»Erst Ungarn, einige Jahre Sylt. Stelle frei in Hotel und Golfresort, er mich fragen mitkommen.«
»Putzen Sie dort ebenfalls?«
»Putzen nur hier. Er wollte wegen Vertrauen. In Firma ich Chefin für ungarische Kollegen, für Zimmermädchen, Gärtner, Hausmeister. Sachen lassen in Ordnung machen. Alles was anfällt.«
»Ist Ihnen heute Morgen etwas aufgefallen, als Sie hier ankamen?«
»Nichts aufgefallen. Alles normal.«
»War das Haus abgeschlossen oder waren Türen oder Fenster geöffnet?«
»Alles ganz abgeschlossen«, sagte die Frau nach kurzem Nachdenken. »Ungewöhnlich aber, alle Fenster zu. Dachte, er nicht da. Hat viel Fenster offen immer. Besonders Schlafenzimmer.«
»Wohnte Herr Thiemann hier allein?«
»Meist immer allein. Letzte Zeit manchmal Verlobte kommen. Weniger andere Frauen jetzt.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal lebend gesehen?«
»Ich Montag hier putzen, aber nicht sehen. Später Montag auf Golfplatz er gespielt und wir kurz geredet. Alles normal.«
»Wissen Sie, ob er danach noch mit jemandem verabredet war? Oder war hier jemand im Haus, als Sie Montag geputzt haben?«
»Nichts gesagt, keiner in Haus.«
»Wer hat Schlüssel zu diesem Haus?«
»Ich Schlüssel, Heiko Schlüssel, sonst nicht weiß.«
»Seine Verlobte vielleicht?«
»Nicht weiß, aber nicht glaube. Er nicht will überrascht werden, wenn Besuch.«
»Besuch von anderen Frauen?«
Zsófia Bacsinszky schaute Petersen unbewegt in die Augen und antwortete nicht.
»Haben Sie die Handschellen gesehen, mit denen Herr Thiemann ans Bett gefesselt war?«
»Gesehen, ja.«
»Haben Sie sie schon vorher einmal hier im Haus gesehen?«
»Immer Nachtschrank. Manchmal Bett.«
»Wissen Sie, wofür sie verwendet wurden?«
Petersen bekam erneut einen unbewegten Blick anstatt einer Antwort.
»Hat er sich damit fesseln lassen? Vielleicht so, wie Sie ihn gefunden haben? Oder hat er andere damit gefesselt?«
Die Haushälterin zuckte fast unmerklich mit den Schultern, sagte aber immer noch nichts.
»Würden wir Ihre DNA daran finden?«
»Möglich ich anfassen wenn putzen. Nicht Sex mit Heiko. Sex nur früher, in Ungarn. Nie Handschellen.«
»Wie heißt die Verlobte von Herrn Thiemann?
»Name Swantje.«
»Und der Nachname?«
»Nie sagen. Sie von Amrum auf Reiterhof. Karol vielleicht wissen.«
»Karol?«
»Karol Panak. Anderer Chef bei Golfresort und Hotel.«
Kriminalmeister Boldanitsch hatte im Gespräch mit der Haushälterin nur wenig Zusätzliches erfahren. Obwohl sie fast jede seiner Fragen beantwortet hatte, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie es vermied, mehr zu sagen als notwendig. Er kannte diese Art, beim Reden zu schweigen, von größeren, nicht unbedingt nur kriminellen Gruppierungen, die strenge Hierarchien hatten. Was schließlich in seine Notizen einfließen konnte war, dass das Mordopfer seit langer Zeit Geschäfte in Ungarn machte, selber auch leidlich ungarisch sprach, und dass viele seiner Mitarbeiter auf Sylt aus Ungarn stammten. Sie wohnten alle auf dem Festland, in einem firmeneigenen Gebäude am Rande von Deezbüll, einem Stadtteil von Niebüll. Auch Zsófia Bacsinszky hatte dort ein Apartment.
»Das viel größte«, hatte sie im einzigen etwas leutseligen Moment stolz lächelnd gesagt.
Im Hausflur wurde es laut. Die Spurensicherung war eingetroffen, ein achtköpfiges Team, angeführt von Petersens altem Freund Michael Hagemann.
»Hey Mike«, begrüßte Petersen ihn erfreut. »Schön, dass du heute die Bereitschaft hast.«
»Schön wär’s gewesen, wenn ich Bereitschaft gehabt hätte«, grinste der Chef der Flensburger Spurensicherer säuerlich. »Ich wollte gerade mit Charly aufs Boot und meinen freien Tag genießen. Aber der Lord hat persönlich angerufen und gesagt, dass ich das übernehmen soll, weil er das Opfer gut kenne, es eine ungeheuer wichtige Persönlichkeit sei und dann das ganze Blablabla, dass ich der Beste bin, die Überstunden natürlich üppig ausgeglichen werden und so weiter. Du kennst ihn ja«
»Tut mir leid für dich«, meinte Hark verständnisvoll. Auch ihn hatte Polizeidirektor Anton Lord schon mehr als einmal mit solchen Schmeicheleien zu Sondereinsätzen geschickt. »Aber mich freut’s natürlich, dich hierzuhaben. Ist nämlich eine ziemlich außergewöhnliche Situation da oben. Und hier unten wurde obendrein geputzt, bevor das Opfer gefunden wurde. Das fängt also eher vertrackt an. Schau mal, was du so zusammenkriegst. Vor allem DNA vom Golfschläger und den Handschellen.«
»Handschellen?«
»Du wirst es sehen. Sag Bescheid, wenn ihr hier fertig seid. Wir schauen uns dann auch noch mal um. Ich bin jetzt erst mal… hmmh, keine Ahnung. Irgendwo halt, oder sonst telefonisch.«
Die Sylter Kollegen hatten es mittlerweile geschafft, sämtliche Häuser in der Umgebung abzuklappern und den Betreiber sowie die Angestellten des nahegelegenen Golfplatzes zu befragen. Aber niemand hatte irgendetwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört, berichtete der Revierleiter.
»Ach, Thiemanns Golfplatz liegt gleich nebenan? Wie praktisch für ihn«, fand Petersen.
»Ne, das ist nicht seiner«, antwortete Frenstrup. »Seiner liegt weiter im Norden. Aber er hätte ihn wohl gerne gehabt, haben wir gerade vom dortigen Betreiber erfahren. Der versuchte übrigens nicht mal, seine Freude zu verbergen, dass Thiemann tot ist. Sie waren offenkundig nicht die besten Freunde. Sicherlich also jemand, den du auch selber noch befragen wirst. Heißt Florian Senske und hat auch noch nen Golfplatz auf Föhr.«
»Den befrag ich später. Jetzt rede ich aber erst mal mit seinem Partner, diesem Karol Panak. Und mit der Verlobten. Weißt du etwas über sie?«
»Nicht das Geringste. Aber von Panak weiß ich, dass er derzeit nicht auf der Insel ist. Da wirst du also noch kein Glück haben.«
»Was als nächstes?«, fragte Müller, der unruhig mit dem Autoschlüssel spielte.
»Die Verlobte. Möglichst bevor sie von anderen von ihrem Unglück erfährt.«
»Klar, um die erste Reaktion zu sehen«, ergänzte Boldanitsch unnötigerweise. »Und wie finden wir die?«
Petersen hatte schon sein Telefon in der Hand und auf einen Namen ganz oben in seinen Kontakten gedrückt. Wenn es um jemanden auf Amrum ging, gab es die perfekte Informationsquelle für ihn.
»Moin, Tante Lizzy. Ich brauch ne Info. Kennst du eine Swantje? Den Nachnamen hab ich nicht. Soll aber was mit nem Reiterhof auf Amrum zu tun haben.«
»Swantje, mien Jung? Na klar. Das kann eigentlich nur die Swantje Lassen von Steenodde sein. Gutes Mädchen, macht im Trachtenverein mit. Hat sich außerdem immer ganz lieb um meine Tiere gekümmert, als ich noch welche hatte. Ist inzwischen richtige Tierärztin, macht aber eigentlich nur Pferde und möglichst nur die eigenen. Ihr ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Ihr selber nicht, aber, falls sie das wirklich ist, ihrem Verlobten. Sagt dir der Name Heiko Thiemann etwas?«
»Ja, mit dem hat sie was. Leider. Ganz schlimmer Finger, wenn du mich fragst. Das ist der, gegen den wir die Bürgerinitiative haben, von der ich dir neulich erzählt hatte. Ich weiß beim besten Willen nicht, was sie an ihm findet. Muss gut zwanzig Jahre älter sein als sie. Naja, vielleicht auch nur fünfzehn. Aber egal. Wo die Liebe halt hinfällt. War wohl sehr für sie da, als das mit ihrem Mann passiert ist. Arme Deern, hat schon ihre Eltern ganz jung verloren. Ist er tot?«
»Ja, leider, das ist er. Hast du die Adresse von dieser Swantje für mich? Ich will ihr die schlechte Nachricht persönlich überbringen, bevor es jemand anderes tut.«
»Die Adresse weiß ich nicht, aber ich kann dir sagen, wie du hinkommst. Soll ich dein Bett überziehen? Bleibst du auf Amrum?«
»Ich hab noch keine Ahnung, wo der Ermittlungsschwerpunkt liegen wird. Aber ein überzogenes Bett bei dir ist immer schön«, lachte Hark und legte auf, nachdem seine Tante ihm den Weg zum Reiterhof Lassen beschrieben hatte.
»Soll ich dir unseren Hubschrauber kommen lassen?«, bot Malte Frenstrup an, der das Gespräch mitgehört hatte.
»Ihr habt nen eigenen Hubschrauber?«, staunte Hark mit unverhohlenem Neid.
»Gerade gekriegt«, grinste Frenstrup mit ebenso unverhohlenem Prahlen. »Nicht ganz für uns allein, leider, aber wir können mit darüber verfügen. Kann in fünf Minuten unten am Ende der Strandstraße sein.«
»Da sag ich nicht nein«, freute sich Petersen.
Der Zeitgewinn war ihm wichtig, denn die Verlobte stand fürs Erste weit oben auf seiner noch extrem kurzen Liste der potenziell Verdächtigen. Da bislang keine Einbruchspuren entdeckt worden waren, Thiemann sich eventuell freiwillig hatte fesseln lassen und er, wie die Haushälterin andeutete, nicht unbedingt treu gewesen war, konnte Hark sich den Ablauf durchaus als eine Beziehungstat vorstellen. Vielleicht aus Eifersucht. Theoretisch zumindest. Praktisch erschien es ihm hingegen, ohne die Verlobte zu kennen, angesichts der enormen Brutalität eher abwegig.
»Ähm, kann ich hier die Stellung halten?«, fragte Boldanitsch und wirkte irgendwie nervös.
»Was ist los? Ich meine, klar, kannst du. Solltest du sogar. Einer von euch muss ja hierbleiben, sich weiter umschauen, den direkten Kontakt zur Spusi halten und so. Aber du hast doch irgendwas?«
»Flugangst«, antwortete Müller für seinen Kollegen. »Boldo hasst es, in einen Hubschrauber zu steigen.«
»Okay, kein Problem«, meinte Petersen. »Für den Moment zumindest. Auf Dauer könnte das in unserem Inselrevier ein bisschen schwierig werden. Wir werden sehen.«
»Boldo? Im Ernst? Du nennst Boldanitsch Boldo?!«, grinste Hark auf dem kurzen Weg zum Hörnumer Hafen. »Und wie nennt er dich?«
»Molle. Es wäre uns übrigens auch lieber, Chef, wenn du uns mit Boldo und Molle ansprechen würdest und nicht mit den Nachnamen. Natürlich nur, wenn das für dich okay wäre.«
»Molle und Boldo…«, Petersens Begeisterung hielt sich in Grenzen. »Ich werd’s zumindest versuchen. Mein vorheriger Assistent hieß Max, genau wie, äh, Boldo. Ist daher vielleicht ganz gut so. Ich fände es übrigens auch besser, wenn ihr Hark und nicht Chef zu mir sagt. So in der Regel jedenfalls.«
»Okay, Chef, äh, hmh, sorry… Hark«
– 4 –
Der leuchtend blaue Himmel war mit unzähligen weißen Wölkchen getupft, die Sonnenstrahlen ließen das Meer flimmern. Eine funkelnde silberne Fläche.
Die Polizisten genossen beim Flug nach Amrum den herrlichen Blick auf die nordfriesische Inselwelt. Gleich nach dem Abheben ging es, noch im Tiefflug, über die strahlend weiße Hörnumer Odde und viele neugierig nach oben schauende Spaziergänger hinweg direkt nach Süden. Sekunden später schimmerte schon das Hörnumtief unter ihnen, das sich als tiefer Priel zwischen den Inseln Sylt und Föhr hindurchschiebt. Jetzt, bei Ebbe, war das Meer jenseits des Hörnumtiefs trockengefallen, und sie entdeckten zwischen Amrum und Föhr zwei große Gruppen von Wattwanderern, die sich als unregelmäßige Ansammlung kunterbunter Punkte von dem zu Land gewordenen braun-beigen Meeresboden abhoben. Ganz im Westen lagen die Seehundbänke schneeweiß in der Sonne. Sie glaubten sogar, trotz der Entfernung, Robben als dunkle Linien auf dem weißen Sand erkennen zu können.
Dann hatten sie auch schon Amrum erreicht. Linkerhand lag die Amrumer Odde, nach Südwesten hin fiel der Blick auf die Norddorfer Dünenlandschaft, im Südosten auf das von kleineren und größeren Prielen durchzogene Wattenmeer und dahinter auf Föhr. Anstatt über die Weiden und Felder Amrums zu fliegen, kreuzte der Pilot die Odde, steuerte östlich davon über das Watt und lenkte erst an Nebels Südrand nach Westen zum Landeplatz nahe der Mühle. Zum Bedauern von Molle und Hark hatte der herrliche Flug nicht einmal fünf Minuten gedauert.
Am Landeplatz kam ihnen Leif Hansen in seiner dunkelblauen Dienstuniform entgegen, die ihn noch größer und muskulöser erscheinen ließ, als er ohnehin schon war. Petersen hatte den Amrumer Polizeimeister noch von Hörnum aus gebeten, sie abzuholen. Früher einmal war Hansen, der inzwischen Hansen-Olufsen hieß, aber von niemandem so genannt wurde, Kriminalpolizist gewesen. Er war mehrere Jahre lang Petersens Assistent gewesen, dann aber hatte ihn die Liebe nach Amrum gezogen, ihm den „Olufsen“ hinter seinen Geburtsnamen gehängt und ihn einen Job im dortigen Polizeirevier annehmen lassen. Einen Halbtagsjob mittlerweile, denn im Hauptleben war er vor gar nicht langer Zeit Vater geworden.
Breit lächelnd schüttelte Leif Hark die Hand, und auch Moritz Müller begrüßte er freundlich. Auch er hatte zwar schlechte Erfahrungen mit dem Auftreten von Müller und Boldanitsch gemacht, als diese noch mit Kommissar Brunswig unterwegs waren. Doch die hatten sich für ihn genau wie für Hark ins Gegenteil verkehrt, sobald die beiden nicht mehr unter Brunswigs Fuchtel standen.
»Wo soll ich euch hinfahren, Chef?«, fragte Hansen.
Müller warf Petersen einen „Warum darf der Chef sagen“-Blick zu. Hark ließ ihn gelassen an sich abgleiten und beschrieb Leif, wo sie hinwollten.
»Ach, zu Swantje? Warum denn das?«
Hark erklärte Leif in kurzen Worten, worum es ging.
»Oh Mann«, fluchte der Amrumer. »Manche sind wirklich vom Schicksal verflucht. Dabei ist sie so eine liebe. Das tut mir unglaublich leid für sie.«
»Du kennst sie näher?«
»Christine und ich hatten uns ein bisschen mit ihr angefreundet. Wir sind ja fast gleich alt, da trifft man sich auf der Insel natürlich bei vielen Gelegenheiten. Nun, wo wir Famke haben und sie mit diesem Thiemann verlobt ist, ist das aber ein bisschen eingeschlafen.«
»Du kennst auch Heiko Thiemann?«
»Den kennen hier alle. Oder auch keiner so recht. Er ist ja wohl von hier, war aber lange Zeit weg. Nun ist er kürzlich wieder öfter aufgetaucht, und auf einmal gehört ihm das gesamte Land von Steenodde her bis fast rüber nach Nebel und Süddorf, ohne dass jemand davon was mitbekommen hatte. Das ist auf Amrum schon ne reife Leistung. Vor ein paar Monaten kam er damit raus, dass er da ein Golfresort mit allem Drum und Dran aufbauen will. Dafür hatte er die Bürgermeisterin offenkundig schon im Boot, die ist hauptberuflich ja Immobilienmaklerin. Seither war hier die Hölle los und die Stimmung im Eimer. Dann gab es vorletzte Woche diese Abstimmung im Gemeinderat, und er hat völlig überraschend die Genehmigung dafür gekriegt. Inzwischen rollten schon die ersten Bagger an. Und nun hat Lizzy mit Maja und meiner Christine zusammen eine Bürgerinitiative gegründet, um das Projekt noch zu stoppen. Hattest du von dem Ganzen denn nichts mitbekommen?«
»Naja, schon. Lizzy hatte davon erzählt und sich auch ziemlich aufgeregt. Aber ich glaube, sie hatte da keine Namen genannt, oder zumindest hab ich mir keinen Namen gemerkt. Dann ist unser Mordopfer also jemand, der sich hier schon ordentlich Feinde gemacht hat. Na, wenn das mal nicht schon ein Motiv ist…«
Sie waren inzwischen von der Inselstraße auf einen Schotterweg abgebogen, an dessen Ende sich ein zweistöckiges, mit anthrazitfarbenen Schindeln gedecktes Haus erhob. Rechts davon lagen umfangreiche Stallungen, nach links hin gab es eine Koppel mit einigen Islandpferden darauf. Direkt dahinter schloss sich saftiggrünes Weideland an, auf dem weitere Pferde grasten. Sie waren deutlich größer als die Isländer und auffallend muskulös. Ihr dunkles, kurzes Fell schimmerte in der Sonne.
Leif brachte den Polizeiwagen direkt vor dem Wohnhaus zum Stehen. Er hatte kaum den Motor abgestellt, da öffnete sich die Tür und eine Frau trat heraus. Sie war groß und schlank, und unter ihrem engen T-Shirt zeichnete sich der Bauch als deutliche runde Kugel ab.
Petersen schätzte, dass seine potenziell Verdächtige im fünften oder auch schon sechsten Monat schwanger war. Sicherlich von Heiko Thiemann. Das würde es umso schwieriger machen ihr zu sagen, dass der Vater des werdenden Kindes nicht mehr lebte.
»Leif, hallo, ist etwas passiert?«, begrüßte sie Hansen und warf einen besorgten Blick auf dessen Begleiter.
»Frau Lassen?«, fragte Petersen schnell, bevor Leif antworten konnte, und zog damit die volle Aufmerksamkeit auf sich. »Swantje Lassen?«
»Ja, die bin ich. Und wer sind Sie?«
Sie musterte ihr Gegenüber mit einem kritisch sorgenvollen Blick. Petersen stellte sich und seinen Assistenten vor, vermied aber das Wort „Mordkommission“. Stattdessen sagte er nur „Polizeirevier Husum“ und fragte, ob sie vielleicht reingehen und sich setzen könnten.
Swantje Lassen ging nicht darauf ein, sondern musterte die Polizisten weiter mit besorgter Miene. Ihr Blick wurde dabei immer düsterer.
»Ist was mit Heiko?«, fragte sie schließlich mit zitternder Stimme.
»Lass uns reingehen und in Ruhe reden, Swantje«, schlug Leif vor.
Er berührte sie sanft am Arm und versuchte, sie in Richtung Haus zu dirigieren. Sie ging jedoch nicht darauf ein. Stattdessen ließ sie seinen Druck mit einer kaum merklichen Bewegung seitlich an sich abgleiten und schob, ebenfalls sanft, seinen Arm von ihrem herunter, ohne sich auch nur einen Millimeter fortbewegen zu lassen. Herausfordernd blickte sie zu Petersen.
»Sagen Sie mir jetzt bitte, was los ist«, forderte sie ihn streng auf.
Petersen sah keinen Sinn darin, weiter auf ein Ins-Haus-Gehen zu beharren, und machte sich lediglich bereit, sie aufzufangen, sollte sie unter seiner Botschaft zusammenbrechen.
»Es tut mir sehr leid: Ich muss Ihnen sagen, dass Heiko Thiemann nicht mehr lebt.«
Swantje Lassen brach nicht zusammen, aber sie wurde deutlich blasser, und ihr Blick bekam einen abwesenden Ausdruck. Mit einer langsamen Bewegung strich sie über ihren Bauch, dann sank sie, wo sie war, in einen Schneidersitz auf den Schotterboden hinab. Eine ganze Weile lang rührte sie sich nicht und schaute an den Polizisten vorbei in die Ferne. Die Männer ließen ihr Zeit.
»Was ist passiert?«, fragte sie schließlich mit zitternder Stimme.
Petersen ging zu ihr und setzte sich neben sie.
»Er wurde getötet. Viel mehr wissen wir noch nicht. Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Freitag«, sagte sie mit Blick in die Ferne, und eine einzelne Träne rollte langsam über ihre Wange. »Das war am Freitag. Und Montag haben wir noch ein paar Mal telefoniert. Auch zum Gutenachtsagen. Da war doch alles wie immer.«
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